Strukturelle Schwächen Europas

Carsten Mumm

Die Wachstumsdynamiken der USA und der Eurozone werden sich in den kommenden Monaten annähern. Während die US-Wirtschaft im Zuge anhaltend hoher Zinsen abkühlt, besteht in vielen europäischen Volkswirtschaften die Hoffnung auf einen konjunkturellen Aufschwung. Trotz dieser Unterschiede dürfte das Wachstum in der Eurozone aber auch künftig schwächer ausfallen als in den USA. Denn gerade Europas Industrie ist sehr abhängig von der Exportnachfrage, die sich angesichts einer globalen Industrierezession seit einigen Jahren nur schleppend entwickelt. Die jüngst vonseiten der US-Regierung deutlich erhöhten Zölle auf verschiedene aus China stammende Exporte legen nahe, dass der weltweite Trend zu stärkeren Handelsrestriktionen vorerst anhalten dürfte. Zudem entwickeln sich gerade chinesische Unternehmen in vielen Bereichen von Zulieferern zu Konkurrenten. Nach einer Umfrage der deutsch-chinesischen Handelskammer sehen sich in China tätige deutsche Unternehmen in den Kategorien Produktqualität, Technologie und Innovationsstärke weiter vorn. Bei Kosteneffizienz, Innovationsgeschwindigkeit und aufgrund einer längeren Zeit bis zur Marktreife eines neuen Produkts werden hingegen Nachteile gesehen. In diesem Umfeld wiegen strukturelle Schwächen von Unternehmen und Volkswirtschaften schwerer, unter anderem eine niedrige Produktivität. Einer Erhebung der Europäischen Zentralbank zufolge steigt die Produktivität pro Arbeitsstunde bei europäischen Volkswirtschaften seit der Jahrtausendwende deutlich langsamer als in den USA, unter anderem weil der IT-bezogene Kapitalstock in den USA stärker gestiegen ist. Die OECD berichtete, dass die Anzahl der Patente im Bereich Künstlicher Intelligenz weltweit in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist, allerdings vor allem aus China, den USA und Japan stammend. Um künftig wieder wettbewerbsfähiger zu werden, müssen europäische Unternehmen daher verstärkt in die Entwicklung und die Integration von Technologien in ihre Geschäftsprozesse investieren. Vonseiten der Politik müssen dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen gesetzt werden, bspw. eine stärkere Marktintegration innerhalb Europas und der Ausbau notwendiger Infrastruktur, die Förderung von Bildung und Forschung sowie eine Steigerung der Attraktivität als Zielstandort für ausländische Fachkräfte. Wenn Unternehmen und Politik gemeinsam eine Agenda der technologischen Erneuerung erstellen, könnte der befürchteten Tendenz zur Deindustrialisierung am effektivsten begegnet werden.

Newsletter vom 22. Mai 2024

Carsten Mumm – Chefvolkswirt und
Leiter der Kapitalmarktanalyse
Privatbank Donner & Reuschel

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